Geräusche übertönen Geräusche. Bilder überblenden Bilder.
Lovecrafts Welt, ein mit Liebe kunstvoll verwobenes Netzwerk einzigartiger Novellen und Erzählungen, hält für den mutigen Leser einen unerschöpflichen Reichtum lebendiger Imagination bereit. Seltsam und selten, ungewöhnlich und unheimlich, verspielt und visionär. Vergnügliche Verknüpfungen sichtbarer und unsichtbarer Dinge. Das ist die Faszination des Unfassbaren, der Fantasie und Fantastik.
Die Geschichten des Cthulhu-Mythos in beiden Bänden sind so angelegt, dass sie in entsprechender Atmosphäre, also bei gedimmtem Licht und Grabesstille (oder für ängstliche Gemüter bei gleißender Sonne am Pool), in einem gelesen werden können. So dachte ich. Doch auf magische Weise wurden sie während des Lesens immer länger, und ich habe mich wiederholt gewundert, warum ich so langsam vorankam. Bis ich verstanden habe, was die eigentliche Meisterleistung Lovecrafts ist; nämlich den Leser zu manipulieren, seine Gedanken und Sinne so stark zu aktivieren, bis er die Geräusche, die sich hinter den beschriebenen Geräuschen verbergen, selber hört, die Bilder, die sich hinter den beschriebenen Bildern verstecken, selber sieht! Selbst der Erzähler ist manchmal so erschrocken, dass er das Erlebte nicht in Worte fassen mag und das Denken lieber dem Leser überlässt. Und wenn man auf Orte, Namen, Bücher stößt, die einem gerade in einer anderen Geschichte begegnet sind, hält man erneut inne, erinnert sich staunend oder lacht, wenn wieder mal das von Lovecraft erfundene Necronomicon, das verbotene Buch des verrückten Arabers, dem ahnungslosen und stets forschenden Protagonisten als Informationsquelle dient oder jemand eine Braut aus Innsmouth heiratet, dem fürchterlichen und natürlich fiktionalen Fischerort, in dem die seltsam verhuschten Bewohner scheinbar durch Inzucht entstellte, fischäugige trockenschuppige Gesichter haben. Der wissende Leser freut sich dann auf die folgende Beschreibung dieser Ehe. (Schatten über Innsmouth und Das Ding auf der Schwelle, Band II)
Viele Geschichten spielen in der grünen hügeligen Landschaft Neuenglands mit seinen liebevoll beschriebenen spitzdachigen und verwinkelten Häusern, die mit ihren knarrenden Holzdielen oftmals selbst zum Hauptcharakter einer Erzählung werden. Über diese an sich märchenhaft beschriebene Welt bricht stets das Grauen von außen herein, das aber immer geistreich und originell erdacht ist, beispielsweise als Farbe aus dem All, die sich über einen Bauernhof ergießt, oder als Töne, die der wahnsinnige Erich Zann mit seiner nächtlichen Geigenmusik überspielen muss. (Band I)
Der Schrecken ist meist ein kosmischer aus den schwarzen Tiefen des Weltalls, Naturgesetze werden ausgehebelt, Raum und Zeit fliessen im Kopf eines schlafwandlerischen Nathaniel Wingate Peaslee zusammen (Schatten aus der Zeit, Band II), und die Beschreibungen gottverlassener Orte, an denen urzeitliche Ungeheuer in bizarren Behausungen in der Wüste, im Eis oder auf dem Meeresgrund schlummernd auf ihre Erweckung warten, sprengen den Horizont in wirklich fremde Welten, die so manchen Schöpfungsmythos in den Schatten stellen.
Sehr zu empfehlen sind die Vorworte von Marco Frenschkowski, die ich immer nachher gelesen habe, um den Text unvoreingenommen auf mich wirken zu lassen. Hier wird jede Erzählung aufschlussreich in ihrem geschichtlichen, literarischen und biografischen Zusammenhang betrachtet, es werden Lovecrafts Inspirationsquellen (Briefe, Filme, Bücher) – so sie noch auffindbar sind – genannt, und man erhält einen Blick in das Leben Lovecrafts und seine kompromisslose Begeisterung für das Schreiben. Und er war sich bewusst, dass imaginative Literatur, anders als romantische und realistische, nur wenige anspricht.